„Ich muss hier raus. Schnell. Sonst werde ich wieder sehr, sehr krank.“

Als ich diese Nachricht an meinen Freund & Mentor Martin Gaedt geschrieben habe, war es noch nicht einmal sechs Monate her, dass ich nach langer Arbeitsunfähigkeit wieder ins Berufsleben eingestiegen war.

Eigentlich sollte der Job, den ich zu dieser Zeit machte, eine Übergangslösung sein, die mich wieder für den Arbeitsalltag fit machte. Ich war komplett im Home Office. Ich konnte mir meine Arbeitszeiten frei einteilen. Und ich machte etwas, das ich sehr gerne tue: Mit Menschen sprechen und ihnen weiterhelfen. Klingt super, oder?

Die Kollegen waren super, ja. Auch der Kundenkontakt. Darüber, dass ständig Überstunden anfielen, dass die Kundenfrequenz extrem hoch war, dass im Home Office keine Trennung mehr zwischen Privatbereich und Arbeitsstätte stattfand, dass mir das stundenlange Sitzen gar nicht gut tat, mein Puls ständig auf 180+ war und dass die Bezahlung wirklich mies war, darüber dachte ich lange nicht nach. Ich redete mir ständig ein, dass mein Job ja nur eine Übergangslösung sei, ich froh sein könne, ihn überhaupt zu haben und dass sich schon alles regeln würde – bis ich eines Abends wieder so dasaß wie vor meiner Arbeitsunfähigkeit und obige Nachricht an Martin schrieb. Ich wusste in diesem Moment gar nicht, was ich eigentlich von ihm erwartete. Mit der Antwort, die er mir wenig später gab, hatte ich allerdings nicht gerechnet.

„Würdest du mit mir zusammenarbeiten?“

Ein „Ja. Sofort.“ später war ich bereits dabei, meine Kündigung zu schreiben. Nägel mit Köpfen. Bumm, zack! war schon immer mein Ding. Manchmal hat mich das ganz schön in Schwierigkeiten gebracht, manchmal ist etwas Großartiges dabei herausgekommen. Gelernt und letztendlich gewonnen habe ich immer.

Heute, neun Monate nach dem Beschluss, wieder neue Wege zu gehen, habe ich viel, viel mehr bekommen als nur Erkenntnisse, wie es oft so schön heißt. Die natürlich auch, und das nicht zu knapp, doch gewonnen habe ich vor allem Gesundheit und Raum für Möglichkeiten.

„Deine Gesundheit ist Prio 1.
Es ist deine Aufgabe, darauf zu achten.“

23.06.2020: Ich stelle JobJackpot beim Meeting Mittelstand des Fachkräfteforum Mainz in der Halle 45 vor. © Marcus Steinbrücker

Welcher Chef hat dir schon einmal diese Antwort gegeben, nachdem du ihn nach seiner wichtigsten Bedingung für eure Zusammenarbeit gefragt hast? – Richtig, so habe ich auch geschaut. Dann habe ich gedacht: Easy. Jetzt achte ich endlich mal auf mich. Und es ist sogar eine Bedingung, um meinen Job gut zu machen. Cool!

Weit gefehlt. Auf meine Gesundheit zu achten hieß für mich im beruflichen Kontext bisher immer, mir nicht anmerken zu lassen, wenn es mir nicht gut ging. Weitermachen. Leistung bringen, trotz meiner Behinderung.

Zeigen, dass ich eine genau so gute Arbeitskraft bin, wie alle (nicht-behinderten) Anderen. Bloß den Job behalten, denn die meisten Menschen mit Behinderung träumen von dem Glück, das ich habe, auf dem ersten Arbeitsmarkt aktiv sein zu dürfen. Ich bin privilegiert und sollte das zu schätzen wissen.

Tatsächlich bedeutet auf meine Gesundheit zu achten genau das Gegenteil von dem, das ich bisher getan habe. Bescheid sagen, wenn es mir schlecht geht, auch spontan. Einen Krankentag (oder auch mehrere) einreichen, ohne ständig daran zu denken, dass ich ja eigentlich noch etwas für die Arbeit erledigen müsste. Wenn nötig auch einmal weniger machen als geplant, ohne Angst davor zu haben, bald meinen Job zu verlieren, weil mein Chef mich als unzuverlässig betrachten könnte. Meinen Alltag neu organisieren, mit ausreichend Zeit für Therapien, Behandlungen, Arzttermine, organisatorische Dinge und vor allem Pausen.

Das ist wirklich harte Arbeit!

Meine Gedanken, meine Handlungen und meinen gesamten Alltag innerhalb kürzester Zeit einmal um 180 Grad zu drehen erfordert alles, was geht – von beiden Seiten. Es ist ein ständiger Prozess. Wir müssen Dinge miteinander kommunizieren, die üblicherweise in einem Arbeitsverhältnis nicht zur Sprache kommen, mit einer Häufigkeit, die uns manchmal selbst auf die Nerven geht. Es braucht viel Verständnis füreinander, auch und genau dann, wenn man den Anderen eigentlich überhaupt nicht versteht. Es braucht Geduld und den Willen, wenn nötig einen neuen Anlauf zu starten mit der Prio 1, falls es doch einmal ruckelt im gemeinsamen Arbeitsalltag oder falls gesundheitliche Rückschritte auftreten.

27.05.2020: Endlich wieder reiten – nach 16 Jahren schmerzhafter Zwangspause. © Uli/privat

Diese Herausforderungen immer wieder anzunehmen lohnt sich. Meine Krankentage in den letzten neun Monaten kann ich an einer Hand abzählen, während ich früher meist mehrere Wochen am Stück arbeitsunfähig gewesen bin. Schmerzmittel sind früher mein täglich Brot gewesen – heute nehme ich sie nur noch selten. Ich konnte meine regelmäßigen Behandlungs- und Therapietermine um ein Drittel reduzieren. Das reicht nicht nur aus, um mich fit zu halten, ich weiß jetzt auch endlich, was Freizeit ist. Alle sollten mehr davon haben, sie tut nämlich richtig gut – und bietet damit Chancen für ungeahnte Fortschritte: Vor dreieinhalb Monaten bin ich das erste Mal seit 16 Jahren wieder schmerzfrei auf einem Pferd geritten.

08.09.2020: Auf 8,11 km habe ich gemeinsam mit meinen Sponsor*innen und meiner Streckenbegleiterin Verena Kißling Spenden für das Limburger Frauenhaus erlaufen. © Verena Kißling

Vergangene Woche habe ich am jährlichen Frauenlauf des Limburger Frauenhauses teilgenommen und zu Fuß eine Strecke von gut 8 km Länge zurückgelegt – am nächsten Tag hatte ich lediglich etwas Muskelkater.

Was würde also passieren, wenn wir alle so handeln würden, dass die eigene Gesundheit die Prio 1 ist? Am Anfang wäre es mit Sicherheit anstrengend, eine große Umstellung. Doch am Ende, davon bin ich überzeugt, wäre es eine enorme Bereicherung für alle.